Zahnärztliche Biomaterialforschung
Die Behinderungen hatten für die Grundlagenforschung der zahnärztlichen Implantologie und die Biomaterialentwicklung gewisse Vorteile: Die Entwicklungen wurden nun vorwiegend im Verbund mit Naturwissenschaftlern und Humanmedizinern angestoßen und außerhalb der DDR-Stomatologie in der medizinischen Hauptforschungsrichtung „Künstlicher Organersatz und Biomatierialien" M28 unter der Leitung von Horst Klinkmann angesiedelt. Dort leiteten Wolfgang Bethmann, später Wolfram Knöfler, den Themenkomplex „Implantierbare Materialien". Diese Hauptforschungsrichtung erwies sich als weltoffen und dogmenfrei. Doch auch dieser Arbeitsraum war nicht völlig exterritorial. Am Ende der Kette vergleichsweise gering gestörter wissenschaftlicher Abläufe stand die „Überführung in die Produktion". Durch die fehlende Flexibilität der staatsplangeführten Industrie endete eine Vielzahl der Entwicklungen. Deshalb und aufgrund der kaum gehörten „wissenschaftlichen Marktarbeit" sind sie (ihrem Ursprung nach) kaum bekannt geworden, obwohl ihre Ergebnisse die Entwicklung der Implantologie im Deutschland der 90er Jahre zum Teil um Jahre vorweggenommen haben. In Hermsdorf und Erfurt wurden Bionit®-Implantate aus Al2O3-Keramik entwickelt und klinisch erprobt. Dabei befruchteten sich die Entwicklung der zahnärztlichen Implantate und die Konstruktion von Al2O3-Keramik-Köpfen für Hüftgelenksimplantate aufgrund gemeinsamer Technologie und gemeinsamer Entwickler gegenseitig. Dies führte zu fünf Patenten. Für die Implantate standen Wilfried Glien aus Hermsdorf sowie Wolfgang Müller und Jörn-Uwe Piesold aus Erfurt. Die Implantate gelangten zur Serienreife, wurden aber infolge des Endes der DDR und der sich international vollziehenden Abkehr von der Al2O3-Keramik nicht mehr in Großserie hergestellt. Die in wechselnder Zusammensetzung agierende Gruppe um Hans Apel (Ilmenau), Georg Berger und Renate Sauer (Berlin) Herbert Hofmann und Volker Thieme (Jena), Steffen Köhler und Bernd Retemeyer (Berlin) sowie Wolfram Knöfler und Hans-Ludwig Graf (Leipzig) beschäftigte sich seit Beginn der 80er Jahre mit Glaskeramiken und Trikalziumphosphaten. In dieser Gruppe wurden über 50 Patente erarbeitet, die sich u.a. in den Produkten Biovitrokeramik AP 40 (Mediceram®), Beta-TCP (Ilmaplant R®; heute BioResorb® Fa. Oraltronics, Bremen) und Alpha-TCP (Ilmaplant L®, heute Biobase® Fa. Biovision, Ilmenau) niederschlugen. Mit Ce-Zertifizierung nobilitiert sind sie noch heute im Markt.Werner Vogel (Jena) beschäftigte sich in den 80er Jahren mit Glaskeramiken des SiO2-Al2O3-MgO-Na2O-K2O-F-Systems. Die Substanz wurde in ausgiebigen Tests auf Anwendbarkeit in der HNO-Heilkunde (Eggert Beleites, Jena) und in der Orthopädie (Johannes Hellinger und Thomas Schubert, Dresden) geprüft. Sie ist (CE-zertifiziert) als Bioverit® und Bioverit II® noch heute zum Ersatz unbelasteter Schädelstrukturen im Handel (Fa. 3di, Jena). Vorteil dieser Keramiken ist vor allem die relativ geringe Härte und damit gute mechanische Bearbeitbarkeit, die sie für individualisierte Implantate, die nach CT-Datensatz hergestellt werden, prädestiniert Rolf Pinkert (Dresden) hat diese Materialien versuchsweise als zahnärztliche Implantate eingesetzt. Die Leipziger Arbeitsgruppe arbeitete gemeinsam mit der Technischen Hochschule Karl-Marx-Stadt unter dem von Horst Hampel und Wolfram Knöfler entwickelten Grundgedanken der „Biologisierung von Implantatoberflächen" seit 1977 an der Idee von Mehrkomponentenimplantaten. Bei diesen sollte ein mechanisch stabiles Grundgerüst Oberflächen tragen, die den „Bedürfnissen" der jeweiligen Kontaktgewebe adaptiert werden.Im Rahmen dieses Grundansatzes wurden von Wolfgang Bethmann, Rüdiger Glauche, Hans-Ludwig Graf, Claus Hamann, Horst Hampel, Friedrich Keller, Wolfram Knöfler, Hans-Ulrich Poll, Karl-Heinz Wickleder und Balthasar Wohlgemuth von 1978 bis 1983 die verschiedensten im PVD- oder CVD- Verfahren aufzutragenden Oberflächen entwickelt und im Subkutanimplantationstest sowie Knochenimplantationstest geprüft. Unter anderem waren dies: Verschiedene Aminosäuren, Kalziumfluorid, Siliziumnitrid, Phthalozyanine, Glimmolymere und deren Kombinationen. Karli Döring (Chemnitz) und Peter Schellhorn (Jena) waren ebenfalls mit der Entwicklung bzw. Prüfung dieser Materialien befasst. Leider erreichte keine dieser Substanzkombinationen die klinische Prüfung am Menschen. Das hatte seine Ursache darin, dass die im Tierversuch erzielten Ergebnisse nicht den erhofften durchschlagenden Erfolg brachten, aber auch darin, dass sich die Leipziger Gruppe nunmehr einer sehr aussichtsreichen Substanzklasse, den transformativen oxidischen Oberflächen zuwandte. Mit der von Waldemar Krysmann 1982 erstbeschriebenen Technologie der „Anodischen Oxidation unter Funkenentladung (ANOF)" entwickelten Wolfgang Bethmann, Hans-Ludwig Graf, Horst Hampel, Wolfram Knöfler, Waldemar Krysmann und Peter Kurze die ELCER®-Implantatoberfläche. Nach ausgiebiger experimenteller Prüfung in Zellkultur, Subkutan- und Knochenimplantationstest wurde diese Implantatoberfläche 1985 in die klinische Prüfung nach dem Arzneimittelgesetz der DDR übernommen und 1989 freigegeben. Infolge ungenügender Produktionsmöglichkeiten im eigenen Lande wurde das Entwicklungsergebnis an die Fa. ZL-Microdent-Attachment GmbH, Breckerfeld als Lizenz verkauft, die es als TICER®-Oberfläche in ihrem ZL-Duraplant®-Implantatsystem in Serienproduktion nahm (seit 1991). Mit Ablaufen des Grundpatents im Jahre 2002 (bei noch bis 2004 bestehendem Anwendungspatent) trat die Fa. Nobel Biocare mit einem technologisch identischen Produkt in leicht abgeänderter chemischer Zusammensetzung hervor. Die TiUnite®-Implantatoberfläche wurde wissenschaftlich wie kommerziell als „Durchbruch in der Osseointegration" gefeiert. Die Urheberschaftsangabe der ab altera manu entwickelten und unter Patentbruch übernommenen Technologie unterblieb. Der folgende Patentstreit wurde (bedauerlicherweise) außergerichtlich beigelegt. Leider ignorierten auch die Wissenschaftler der Göteborger Universität in ihren Publikationen die vorbestehenden deutschen Veröffentlichungen auf höchstem Niveau. Immerhin sorgte dieser Vorgang sowohl auf der DGI-Jahrestagung in Salzburg 2000 wie auch in Mannheim 2001 für erhebliches Aufsehen, das sich u.a. im Eröffnungsvortrag des DGZMK-Präsidenten Winfried Wagner 2001 in Mannheim deutlich niederschlug. Wohl nicht völlig ohne Zusammenhang kann man die Verleihung des Jahrespreises der DGI 2002 in München für die beste klinische Arbeit an die Arbeitsgruppe Graf, Geu, Knöfler und die Publikation „Klinisches Verhalten des ZL-Duraplant-Implantatsystems mit TICER®-Oberfläche, Prospektive Studie. Mitteilung I: Überlebensraten. Zahnärztl. Implantol 17, (2001) 3 S. 124 – 131" sehen. Insgesamt wurden in der Leipzig-Chemnitzer Arbeitsgruppe 28 Patente entwickelt. Neben dieser Forschungsrichtung beschäftigten sich Hans-Ludwig Graf und Wolfram Knöfler in den Jahren 1980 bis 1985 gemeinsam mit Rudi Danz und Werner Stark (Teltow) mit der Stimulation des Knochenwachstums durch elektrisch geladene Teflon-Folien (PTFE-Homoladungselektret) und piezoelektrisch aktive Polyfluoriden-Folien (Heteroelektrete). Vorgesehen für den Einsatz in parodontologischen und traumatischen Knochendefekten kam der therapeutische Ansatz über eine tierexperimentelle Beweisführung nicht hinaus, da auf Weisung des Leningrad-Absolventen und neuberufenen Klinikdirektors Gerold Löwicke die Entwicklung 1985 eingestellt wurde. Ab 1987 beschäftigten sich Karli Döring, Ullrich Glase und Wolfgang Müller in Chemnitz mit neuen Insertionstechniken für zahnärztliche Implantate. Auf der Basis eines leistungsstarken Ultraschallgenerators entwickelten sie eine Ultraschallknochensäge, mit der das Anlegen eines schlitzförmigen Betts für Blattimplantate ohne die sonst in Kauf zu nehmenden Risiken der Weichteilverletzung möglich war. Zudem konnte man mit dieser Technologie risikolos formkongruente Implantatbetten für Blattimplantate anlegen, die inzwischen als conditio sine qua non galten. Die im Rahmen der Wende einsetzende Umstrukturierung an der Technischen Universität Chemnitz führte zum Abbruch dieser aussichtsreichen Entwicklung, die mit acht Patenten abgesichert war. Henriette Ecke, Hans-Ludwig Graf und Wolfgang Heinke (Leipzig) konnten in den Jahren 1989 und 1990 die histologischen Besonderheiten der Wundheilung an Leistungsultraschallosteotomien noch charakterisieren.Danach musste die Arbeit eingestellt werden. Im Jahre 2002 kehrte dieses Operationsprinzip auf die implantologische Bühne zurück. Unter dem Markennamen „Piezo-surgery" (Fa. Mectron, Carasco Italien, Vertrieb in Deutschland: Rocker & Narjes GmbH, Köln) wird eine technisch perfektionierte Leistungsultraschallsäge u.a. für die Implantatchirurgie angeboten. Die besonderen Charakteristika des Ultraschallsägeprinzips vermindern u.a. das Risiko von Nervverletzungen bzw. von Schleimhautperforationen beim Sinuslift. | |